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Elternhaus Die Jugend Freund Kuba Zwangsarbeiter
Die Flucht
Rückkehr nach ca. 32,5
Jahren. Als Sieger!
25.12.1964 - 29.06.1997
Flucht aus Oberschlesien über Jugoslawien / Italien in die BRD.
Dez. 1964 - März 1965
In Oberschlesien Die Vorgeschichte
Als Schlesien von den Sowjets, von den Russen besetzt
wurde (Jan. 1945), um es kurze Zeit später den Polen zur, vorläufigen,
Verwaltung zu übergeben, war ich 4 Jahre und 3 Wochen alt. Deutsch zu
sprechen wurde uns verboten, auch ich musste jetzt polnisch lernen. Der
erste Satz war: "ja polski Polak"; (ich bin ein polnischer Pole). Diesen
Satz musste ich immer wieder wiederholen. Die neuen Machthaber, wollten
aus mir einen guten polnischen sozialistischen Jungen machen. Wie es dazu
gekommen ist, dass ich politisch-unkorrekt, zu einem
"Freiheitskämpfer", zu einem Nichtangepassten geworden bin, weiß ich
nicht. Diese politische Unkorrektheit habe ich mir bis zum heutigen Tage
erhalten. Es folgten 20 Jahre Unterdrückung, Verfolgung und
Diskriminierung. Wir waren die Autochthon, die Eingeborenen.
Für uns ist die Vergangenheit ständige Gegenwart.
Wie es zur Flucht gekommen ist
Es war kurz vor Weihnachten 1964. Ich hatte im Januar im 2. Bildungsweg das
Abitur gemacht, sowie zugleich das Steigerpatent erworben (an der Technischen
Universität Gleiwitz). Schon die feierliche Diplom-Ausgabe war recht dramatisch.
Die Behörden hatten verordnet, dass alle deutschen Namen zu polnisieren seien.
Aus meinem Namen sollte dieses "th" durch einfaches "t" ersetzt werden, sowie
das "y" durch "j" (Rathay zu Rataj). Man musste sich schriftlich dazu
verpflichten und entsprechende Schritte (Namensänderung rechtzeitig vor der
Prüfung beantragen) einleiten. Es war Voraussetzung zu Zulassung zu
Abiturprüfung.
(Einer von uns hat sich geweigert dieser Namensänderung zuzustimmen. Er wurde
von der Prüfung ausgeschlossen. Er hat auf das Abitur verzichtet. Leider habe
ich seinen Namen vergessen. Hochachtung!)
Ich hatte mit unserer Schul-Sekretärin ein kleines Verhältnis und konnte sie
überreden, eine Ausnahme zuzulassen.
Der Direktor, ein scharfer Hund und Deutschenhasser, sollte nicht zu dieser
Diplom Austeilung erscheinen, er sollte verreisen (Dienstreise nach Warschau).
Außerdem war es bei mir nicht so dramatisch, denn fonethisch gab es eigentlich
keinen Unterschied. Eigentlich, denn wirklich versuchten die Polen auch dieses
"h" auszusprechen: "Rat-hay". Mit dem "Ypsilon" (i-Grek, wie die Polen sagen)
hatten sie noch mehr Probleme, wird es doch als kurzes "e" gesprochen. "Rathay"
heißt dann: Rat-ha-e. Man muss wissen, dass die polnische Schriftsprache sehr
jung ist. Erst gegen 1550 wurde durch den Poeten M. Rej in polnisch geschrieben
("Wir Polen sind keine Gänse, wir haben unsere eigene Sprache", oder
abgewandelt: "Wir Polen sind keine Gänse, aber wir gackern viel"). Es wird dort
versucht, alle Buchstaben auszusprechen. Eben, keine Schrift-Tradition. (Man
kann von einer Polen-Namen-Manie sprechen. Alle Namen müssen polnisiert werden.
Was kann der arme Chopin (Schopen, Nasallaut) für seinen französischen Namen?
Seine Eltern haben ihn in Frankreich gezeugt. Zufällig kam er in Polen zur Welt.
Jetzt wird er Chopin, ohne Nasal-Laut gerufen "Cho" wie Hoppla, "pin" wie
Pinsel.)
Der Direktor war aber dann doch anwesend und hat die Verteilung der Zeugnisse
persönlich vorgenommen. Wir haben unruhig gesessen und gewartet, bis ziemlich am
Ende, der Buchstabe "R" aufgerufen wurde. Das entsetzte Gesicht, als er meinen
Namen deutsch geschrieben gesehen hat, werde ich nie vergessen. Er hat getobt,
wollte die Sekretärin fristlos entlassen. Sie hatte aber auch ihre
Partei-Freunde. Sie durfte bleiben.
Ich war hochgradig politisch-unkorrekt und Zivil-Couragiert.
Zur dieser Zeit war ich als Lehr-Hauer untertage beschäftigt. Ich habe mich bei
der Verwaltung nun um die Stelle eines Steigers beworben. Vorher noch, mussten
einige Zusatz-Kurse absolviert werden.
Dann kam aber der Druck vom Arbeitgeber, in die kommunistische Partei
einzutreten. Alle Aufsichtspersonen mussten Polen und Mitglieder der Partei
sein. Durch einen Freund, der in der Partei einen hohen Posten inne hatte, ist
es mir trotzdem gelungen, wenigstens noch die obligate "Sprengmeister Prüfung"
abzulegen. Es war ein Sprengmeister - Lehrgang in Königshütte. Dieser Lehrgang
war Voraussetzung für die Zulassung als Bergbausteiger.
Der politische Druck ging weiter und wurde verstärkt. Es wurden politische
Äußerungen von mir gesammelt, ein Dossier wurde angelegt. Ich wurde beobachtet,
ausspioniert, von der Miliz und besonders von der "ORMO" (freiwillige Reserve
der Miliz) schikaniert. Von Agenten, die versucht haben sich als Freunde
auszugeben, wurde ich zu systemfeindlichen Äußerungen provoziert. Zum Glück hat
mich mein Freund, der Pole Bronislaw I l s k i gemahnt, vorsichtig zu sein "die
planen was gegen dich".
So hat ein "Freund" um ein Gespräch gebeten. Er wollte von mir wissen, was ich
davon hielte, wenn er der kommunistischen Arbeiter-Partei PZPR (Polnische
Vereinigte Arbeiter Partei) beitreten würde. Ich war vorgewarnt und habe ihn
entsprechend abserviert. "Aber natürlich". "Das solltest du tun". "Du sollst
dich für die Errungenschaften des Sozialismus einsetzen und sie mehren", und so
weiter. Hat aber nichts gebracht, das haben sie mir nicht abgenommen.
Der Staatsanwalt hat sich eingeschaltet, ich wurde vorgeladen. Meine Weigerung
in die Partei einzutreten, wurde ausgelegt als "subversives" Verhalten. Zusammen
mit verschiedenen, kleineren politischen Delikten (Deutsche Radiosender Hören,
Besitz Deutscher Bücher, Deutsch sprechen, Weigerung als Schulkind den Harcerze,
polnischen Pfadfindern beizutreten), sowie einem gescheiterten Fluchtversuch
(mit ca. 16 Jahren wollten mein Freund Alo (Albert Krawczyk, früher: Kühn) und
ich, über das Dreiländer-Eck, Tschechien/DDR/BRD in die Bundesrepublik fliehen;
bereits nach ein paar km Wegstrecke in den Bergen, hat uns ein Einheimischer den
Grenzern gemeldet, wir wurden festgenommen) hat man mir 5 Jahre Gefängnis in
Aussicht gestellt. Unter einem fadenscheinigem Grund, wurde mir fristlos
gekündigt.
Nach einem halben Jahr Zwangspause vom Bergbau und Arbeit als Chemikant in einer
chemischen Fabrik, dort wurde das Teer, das bei der Verkokung der Steinkohle
anfällt, destilliert, von hier datiert meine Liebe zu Chemie, konnte ich in
einem anderen Steinkohlebergwerk anheuern. An der selben Grube, an der mein
Vater zuletzt als Aufseher gearbeitet hat. Beruflich war nur der niedrigste
Posten eines Aufsehers drin (Nadgórnik), "Aufsichtshauer" (Ober-Häuer).
Eine Rechnung hatten die örtlichen kommunistischen Behörden mit mir noch offen.
Sie ahnten es, es war ein Trick. Sie konnten es sich nicht vorstellen, wie es
mir gelungen ist, bei der Musterung eine "Kategorie B, Untauglich in
Friedenszeiten", zu erreichen.
Das kam so. Bei der Musterung zum polnischen Militär, habe ich mich blind
gestellt. Ich wusste, dass ich, komme es, was da wolle, nicht zum polnischem
Militär wollte. Ich habe alles auf eine Karte gesetzt. Es war mir egal. Ich
wollte nicht, dass ich im militärischen Konfliktfall, auf Deutsche, auf meine
Landsleute schießen müsste.
Auch den übergroßen Buchstaben "E", auf der medizinischen Lesetafel, habe ich
"nicht gesehen". Der untersuchende Arzt wurde wütend. "Du bist also blind!"
Ich sollte zum Garnisonarzt nach Gleiwitz, zu einer extra Untersuchung für
Simulanten. Ich hatte Angst. Was wird mich dort erwarten?
Schon die Begrüßung war bedeutungsvoll. "So, du siehst also nichts!", meinte
bissig der Militär-Augenarzt.
Dann schaute er in meine Augen. Den Gesichtsausdruck, die Enttäuschung in seinem
Gesicht, werde ich nie vergessen. Ich wusste nur, dass ich kurzsichtig war. Dass
ich aber auch an "grauem Star", an Katarakt leide, wusste damals niemand. Diese
Kristalle in meinen Augenlinsen haben mich gerettet. Dieser Arzt kannte es
nicht, war überfordert. Ich wurde vom militärischen Dienst befreit.
Die Musterung selber war wie wahrscheinlich bei jedem Militär. Als Schreibkräfte
wurden wieder Abiturientinnen bestellt. Die Mädchen saßen, mehr oder weniger
"gleichgültig" schauend und wir, nackt, vor den Tischen, mehr oder weniger
verlegen blickend. Bücken! Po-Backen auseinander! Kurze, scharfe Kommandos, dann
durfte man sich wieder anziehen.
Ich sollte später aber zum Betriebsarzt, um meine Tauglichkeit für die
Untertagearbeit als Gruben-Steiger zu bestätigen. Jetzt wusste ich, dass ich
auch hier als Brillenträger "Untauglich" war. Es wäre eine Katastrophe. Es war
mein Beruf. Wo sollte ich sonst arbeiten?
Mein polnischer Freund, Bronislaw I l s k i hat mir wieder geholfen. Zu dieser
Augenuntersuchung kam er einfach mit. Als mein Name aufgerufen wurde, ist Bronek
aufgestanden und hat an meiner Stelle die Untersuchung absolviert. Er hatte
Angst, viel Angst. Er hat es aber getan, er war ein guter Freund.
Mir ist ein wahres Kunststück gelungen. Für den Militär-Dienst untauglich, für
die Arbeit Untertage aber tauglich!
Da kam die Nachricht, dass Bekannte, zwei Brüder mit ihren Ehefrauen eine
Flucht über Jugoslawien planten, gerade recht. Sie planten eine 6 Tage
Reise "Silvester in Belgrad" (Sylwester w Belgradzie) zur Flucht in den Westen
zu nutzen. Diese Reise wurde vom Reisebüro "Orbis" in Kattowitz organisiert.
Also, ab nach Kattowitz, die Reise buchen. Sicherheitshalber bis zum letzten Tag
gewartet, um die Behörden nicht zu warnen. Diese Reise war sündhaft teuer. Die
Familie hat dazugelegt, besonders Cousin Paul war da großzügig. Alleine hätte
ich dieses Reisegeld nicht aufbringen können.
Es musste noch mit der Familie besprochen werden. Wir wussten, daß die Familien
der Geflohenen große Repressalien erwarteten. Die Familien wurden schikaniert,
verfolgt. Mein Bruder war zurückhaltend, meine Schwester Ingrid voller Euphorie.
"Mach es, hau ab!" "Kümmere dich nicht um mich, ich halte das aus". "Die kriegen
mich nicht klein, ich halte das aus". Die Repressalien waren dann doch größer,
als befürchtet. Die Hausbewohner haben nicht mehr gegrüßt, sie wurde gemieden.
Niemand hat mit Ingrid sprechen wollen. Der Betrieb hat sie fristlos entlassen.
Ingrid hat als Ober-Buchhalter im Rechenbüro der Grube gearbeitet. Nach Monaten
Arbeitslosigkeit, ohne Arbeitslosengeld, bekam sie Arbeit als Hilfs-Arbeiterin
in der Kohle-Sortiererei der Grube. Die schmutzigste und schwerste Arbeit in der
Grube. Sie hat aber nicht geklagt, hat still gelitten. Inzwischen hat sie
mehrere Ausreiseanträge gestellt und konnte 1972 zu mir ausreisen. Es hat dann
doch 8 Jahre lang Repressalien gegeben. Ebenfalls unser Bruder Heinz mit Familie
durfte dann ausreisen. Die Sortiererei (Sortownia), das ist eine riesige, zugige
Halle, in der mehrere eiserne Förderbänder Gesteinbrocken befördern. Unter
diesen Gesteinsbrocken waren auch Kohle-Brocken. Diese musste man
heraussortieren, mit den Händen aufnehmen und hinter sich, in einen Trichter
werfen. Und das jeden Tag 8 Stunden lang, auch am Samstag.
Um die Familie zu schonen, wurde das Sold-Buch, so wie der Personalausweis und
sonstige Ausweise zurückgelassen. Bei Mitnahme dieser Dokumente wurde Spionage
Unterstellt, mit noch schärferen Sanktionen, bis zum Gefängnis für die Familie
(und den Flüchtling, sollte die Flucht nicht gelingen). Möglich wurde dieser
"Ausflug in die Freiheit" nur deshalb, weil kein Reisepass beantragt werden
musste. Der Reiseleiter hatte ein Dokument (Sammel-Pass) für alle Reisenden.
Einen individuellen Reisepass hätte ich niemals bekommen. Weil kein Reisepass
beantragt werden musste, erfuhren die Behörden von meinem "Ausflug" nichts.
Dann hieß es Abschied "für immer" zu nehmen, tatsächlich für fast 33 Jahre!
Alle Freunde und Verwandten wurden nacheinander besucht und im Vertrauen einigen
wenigen die Fluchtabsicht mitgeteilt. Bestraft wurde man auch dann, wenn bei
Kenntnis der Fluchtabsicht, diese den Behörden nicht gemeldet wurde. Besonders
traurig war der Abschied von Alicja, der ich nicht sagen durfte, dass wir uns
nie wieder sehen werden. Es muss sie sehr getroffen haben. Leider hat sich weder
mein Cousin Dieter, noch mein Cousin Manfred überreden lassen mitzumachen. Und
alleine die Flucht zu wagen? Es war aber gut so, dass ich alleine gewesen bin.
Ich hatte nur mein eigenes Leben zu Verantworten. Ein fremdes Leben hätte ich
nicht riskiert. Mir alleine war es egal: es kommt, wie es kommen muss, meinte
ich.
Leid hat es mir getan, meine Büchersammlung (etwa 500 Bücher) zurücklassen zu
müssen. Ich vermisse sie heute noch. Alle persönlichen Gegenstände mussten
zurückgelassen werden. Alles war für immer verloren, Geschenke,
Erinnerungstücke, Kleidung, Fotografien. Gegenstände, die nichts mit der
Urlaubsreise zu tun hatten, durften nicht mitgenommen werden. Es könnte
Misstrauen erwecken.
Die Vergangenheit existierte nicht mehr. was das heißt, kann nur der Beurteilen,
der es durchmachen musste. Es ist, wie nach einem großen Feuer, oder wie wenn
man ausgebombt worden ist..
Mein Cousin Dieter gab mir ein Stück Zahngold (etwa 3 Gr.) mit auf die Reise. Es
war mir aber zu riskant, dieses Stück Zahngold über die Grenzen zu schmuggeln.
Es wurde noch in Gleiwitz verkauft, und für dieses Geld zusammen mit meinen
restlichen Zloty (das polnische Geld musste ausgegeben werden) eine einfache
Armbanduhr, und eine Kopfbedeckung, einen Hut gekauft.
Mein Freund, der Pole und Parteibonze Bronislaw I l s k i hat mich, als einziger
begleitet. Er hat beim Abschied am Bahnhof in Gleiwitz geweint vor Sorge und
Trauer für immer seinen Freund zu verlieren. Er sagte: "Peter, wenn sie dich
erwischen, sehe ich dich nie wieder. Und wenn dir die Flucht gelingt, dann auch
nicht mehr. So, oder so, du gehst für immer weg".
Wir durften uns auch nicht schreiben. Es war, als hätte der Tod uns auseinander
gerissen. Uns war bewusst, wir würden uns nie wieder sehen und auch keinen
direkten Kontakt mehr haben dürfen.
Dann ging auch schon die Zugreise nach Jugoslawien los.
Bronek war ebenfalls Grubensteiger, ein Zuwanderer, ein Migrant. Schlesier mit
Migrations-Hintergrund. Er kam aus Zentralpolen als Gastarbeiter. Auch er hat keine
Zusatzschicht, keine Sonntagsschicht versäumt. Er wollte Geld verdienen, um
seinem Bruder ein Studium zu ermöglichen. Nach meiner Flucht durfte ich zu ihm
keinen Kontakt aufnehmen. Später musste ich leider erfahren, dass er untertage
tödlich verunglückt ist. Das hat mich schwer getroffen. Wie gerne hätte ich ihm
für seine Hilfe und seine Freundschaft gedankt. Nach der Wende, nach der
Befreiung Polens 1998, wäre das kein Problem mehr gewesen. Meine Versuche seinen
Bruder ausfindig zu machen, sind fehlgeschlagen.
Auch Alicja ist verstorben, bevor ich ihr hätte erklären können, warum ich für
immer verschwunden bin. Gerne hätte ich mich bei ihr entschuldigt.
Die
Reise
Im Zug hat sich schnell herumgesprochen, dass die eine Hälfe der etwa 30
Reisenden zum Handeln und die andere, um zu Fliehen unterwegs waren.
Elektrisiert hat uns die Meldung, dass ein Miliz in Zivil unter den Reisenden
war. Ein etwa 40jähriger Pole Mikolai hat sich als Miliz zu erkennen gegeben. Er
fragte mich immer wieder, wir zwei waren die einzigen Alleinreisenden, wie ich
meinte, hinterhältig, "ob man die Reise nicht auch zu Flucht nutzen könnte". Ich
habe mich dumm gestellt.
"Aber warum denn, die Errungenschaften des Sozialismus!", und "Der
imperialistische Westen!". "Niemals!". Ich konnte ihn nicht loswerden. Ständig
wuselte er um mich herum.
Irgendwann kamen wir in Belgrad an. Gleich am ersten Abend nutzten wir die
Chance zur Flucht. Nach dem Studium einer Landkarte, beschlossen wir nach
Österreich zu gehen. Natürlich hatten wir keinerlei Personal-Papiere dabei.
Unsere Pässe hatte der Reiseleiter, das heißt, die waren gar nicht mit, der
Reiseleiter hatte nur diesen Sammelpass für uns alle.
Mein Taschengeld in Dinar reichte gerade so, um eine Fahrkarte, einfach, an die
Österreichische Grenze, über Laibach, Ljubljana, zu lösen. Wir wollten über die
Berge nach Österreich zu Fuß fliehen!
Mit einer Seilbahn fuhren wir in die Berge, Richtung Freiheit, nach Jesenice. Am
Bahnhof in Laibach (Ljubljana)hat man mir die Handschuhe gestohlen. Wir hatten keine
Verpflegung mit. Der Hunger war unerträglich. Die Brüder hatten je eine Orange
mit. Aus Höflichkeit musste ich das mir angebotene Stück ablehnen. Ich rieche
diese Orangen immer noch.

Es war eine Illusion, wie sich herausstellte. Viel Schnee lag da; wir hatten
keine angemessene Kleidung.
So weit kam es aber gar nicht, denn von den Begleitern, es waren die zwei Brüder
mit ihren Ehefrauen, bekam einer der Brüder einen Nervenzusammenbruch. "Wenn sie
uns erwischen! Ich bringe mich um! Ich will zurück", es half nichts. Nicht unser
Bitten, nicht die Beschimpfung durch seine Ehefrau. Wenn ich so recht überlege,
seine Weigerung kam uns recht. Wir anderen waren nur zu feige, unsere Angst und
uns die Unmöglichkeit des Vorhabens zu gestehen.
Wir fuhren also zurück. Das heißt, ich musste noch irgendwas verkaufen, um die
Zugfahrkarte zurück nach Belgrad zu lösen. So habe ich auf der Straße meine
Armbanduhr an einen Passanten verkauft. Dann ging es zurück. Das ganze hat drei
Tage gedauert. Unsere "Flucht" war schon bemerkt worden, unsere Sachen aus den
Hotelzimmern bei der polnischen Botschaft deponiert. Es wurde vertuscht und ein
fadenscheiniger Grund für unsere Abwesenheit angenommen (Teilnehmer haben sich
verirrt). Unsere Rückkehr bewirkte eine große Erleichterung bei der
Reiseleitung.
Die Ehefrau des "feigen" Bruders wollte sich mit einer Niederlage nicht
zufrieden geben. "Peter", sagte sie zu mir, "komm, wir beiden hauen alleine ab".
"Wir lassen die zurück". "Wir schaffen das". Na gut, aber wie? Wir fuhren zum
Belgrader Flughafen und haben Lufthansa Piloten abgefangen, um sie zu beknieen
uns mitzunehmen. Die Piloten haben sich entschuldigt und uns zu erklären
versucht, welche politischen Verwicklungen das mit sich bringen würde.
Inzwischen waren die 6 Tage vergangen, wir sollten die Rückreise antreten. Sie
gab mir ihren goldenen Ring, "Peter, falls Du doch noch fliehen willst....".
Dieser Ring hat mir tatsächlich weiter geholfen.
Abends ging es dann mit gepackten Koffern zum Bahnhof. Der Zug stand schon
bereit, es war schon dunkel, es muss Freitag, der 1.01.1965 gegen 19:00 gewesen
sein. An den Silvester-Ball habe ich keine Erinnerung.
Kurz vor dem Einstieg in den Zug kam mir der Gedanke, wenn du jetzt
zurückfährst, dann "ist es das gewesen". "Eine Niederlage!", "Aus und vorbei"!
Ich wollte doch nicht mehr zurück! "Nein, das durfte nicht sein. Niemals zurück.
Lieber sterben!"
Kurz nach links und rechts geschaut, und anstatt in den Zug einzusteigen, unter
dem Zug durch, auf die andere Bahnsteigseite, raus aus dem Belgrader Bahnhof und
nur weg, weit weg. Nur weg! Niemand hat's bemerkt. Meinen Koffer gab ich dem Vordermann
in der Schlange: "Halt mal kurz, ich hol Zigaretten". Er nahm meinen Koffer mit
in das Abteil.
Ich lief etwa eine Stunde auf den Strassen, immer weiter weg vom Bahnhof. Nur
weit weg! Von fast panischer Angst getrieben.
Der Reiseleiter hat meine Abwesenheit erst nach 6 Stunden Zugfahrt bemerkt. Der
Koffer war da, ich aber nicht! Er soll fürchterlich getobt haben. "Wo ist der
Rathay"? "Wer hat ihn zuletzt gesehen"? brüllte er. Einer antwortete: "Er wollte
noch schnell am Bahnhof Zigaretten kaufen".
Der Reiseleiter konnte die jugoslawischen Behörden nicht mehr über meine Flucht
informieren, folglich wurde nach mir nicht gefahndet.
Zuerst musste ich Geld beschaffen, oder sonst wie die weitere Reise
organisieren. Irgendeine Frau ansprechen? Oder, es als Schwarzfahrer versuchen?
Ich hatte ja diesen Ring! In einer
Kneipe zeigte ich der Kellnerin diesen Ring, und tatsächlich, sie kaufte mir
diesen Ring ab (für sie ein gutes Geschäft). Das Geld reichte für eine
Zugfahrkarte und für drei Tassen Kaffee.
Ich war nun in Jugoslawien, in Belgrad, allein, ohne Papiere, ohne Geld, mit
unzureichender Kleidung im kalten Winter, völlig auf mich gestellt. Ein
Illegaler. Für Nahrungsmittel war kein Geld übrig.
Die Zugreise ging diesmal an die italienische Grenze, an den Grenzort
Sežana (ital.
Sesana), Dauer etwa 15 Stunden.
Bis zu Grenze waren von dort vielleicht 8 km, bis nach Triest, dort wollte ich
hin, etwa 35 km Fußweg durch unwegsames Gelände (Karst). Für das letzte Geld
eine Tasse Kaffee im Warmen getrunken und dabei die Gäste im Cafe beobachtet.
Ich dachte mir, dass mir ein Italiener helfen könnte. So war es dann auch. Da
stand ein kleiner italienischer Wagen (Fiat 500), zu dem ein junger, gut
gekleideter Mann ging. Ich hinterher.

Sesana. Hauptstraße.
Ich konnte
nur ein paar Brocken Englisch, ziemlich gut Russisch, weniger
Französisch und etwas mehr Deutsch.
Ich hab's auf Italienisch versucht: "Buon Giorno. Sono Polacco, Signore!".
Für Polen haben die Italiener mehr übrig als für Deutsche, dachte ich und
log.
Umberto Birrolla, so hieß dieser freundliche Student aus Italien, war zum
Tanken da. Als Triestiner besaß er einen Dauer-Passierschein. Tito erhob
damals Ansprüche auf die Stadt Triest, für Tito waren Triestiner
Jugoslawen. Umbertos Angst, durch Kontakt mit einem Flüchtling diesen
wertvollen Passierschein zu verlieren, war groß. Der Treibstoff war in
Jugoslawien viel billiger zu haben.
Umberto wusste sofort was mit mir los war. Die Kleidung, völlig
unangemessen zur Winterzeit:
Halbschuhe, Anzug, kein Mantel, keine Handschuhe.
Er sagte, dass er mich gerne abends möglichst nah an die Grenze (bis an
etwa 3, 4 km) heranbringen würde. Er darf aber nicht halten auf der
Strecke, ich müsste aus dem fahrenden Auto springen. Mehr kann er nicht
tun. Es war schon im Grenzgebiet. Ein hier haltendes Fahrzeug würde die
Grenzer alarmieren.
So geschah es denn auch. Ich stieg ein, ohne dass es jemandem aufgefallen
ist, versteckte mich so gut es ging - und wir fuhren los. Ein paar km vor der Grenze wurde Umberto
langsamer. Ich öffnete die Beifahrertür und ließ mich herausfallen,
herausrollen, wie im
Film, in den Straßengraben, meinen Hut fest in der Hand haltend.
Es war gerade dunkel geworden, vielleicht gegen 19:00 Uhr.
Umberto ist weitergefahren, ich blieb noch ruhig liegen bis es dunkler
wurde und ging dann parallel zur Grenze etwa 4,5 km nach Süd-West. Das
Gelände war sehr schwierig. Eher spärlicher Baumbewuchs, aber die
zahlreichen Büsche sorgten für genügend Sichtschutz. Ich musste auch
darauf achten, keine großen Geräusche zu verursachen. Stellenweise musste
ich robben, geduckt gehen. Es war ruhig, es
ging ein leichter Wind von der Grenze. Das war gut so, denn die Grenzer
hatten auch Hunde. Als ich das Gefühl hatte weit genug entfernt von der
Strasse zu sein, machte ich um 90 Grad eine Wende und ging über die Grenze
nach Italien. So ganz sicher war ich mir nicht, dass die Richtung auch
stimmte und dass es auch die Grenze war. Es war dunkel und eine
Taschenlampe hatte ich nicht. Ein Licht hätte mich auch verraten können.
Zum Glück gab es hellen Mondschein. Bei starker Bewölkung, bzw. Regen,
wäre der Ausgang der Flucht ungewiss. Ein Kompass wäre sehr hilfreich
gewesen, hatte ich aber nicht, ich musste mich am Mond orientieren. Später
diente als Orientierung der erleuchtete Himmel weit unten über Triest. Die
festliche Neujahrs-Beleuchtung der Stadt hat dafür gesorgt.
In Italien
Es war Sonntag, nach Mitternacht, der 3.01.1965 einen Tag, nach meinem 24. Geburtstag.
Meine Hoffnung war, dass durch die Feiertage bedingt, die Grenze nicht so dicht besetzt
sein würde, und die Grenzer noch nicht ganz nüchtern. Und sollten sie auf mich
schießen, sie dann nicht treffen würden! Eines wusste ich gewiss. Sollte der Ruf
erschallen:
"Stoi!" "Stoi!" ich dann nicht stehen bleiben würde.
Nach einer Zeitlang kam ein Streifen freies Feld – das hätte die Grenze sein
können. Aus Aufregung hat sich die Verdauung gemeldet – es half nichts, die
Natur verlangte ihr Recht. Es war sehr gefährlich, denn der Geruch "nach Mensch"
hätte mich verraten können. Ich bin deshalb ein paar Hundert Meter
zurückgegangen. Man kann nicht gegen die Natur.
Da war ein tiefes Loch in einem kleinem Wäldchen. Als ich dieses Loch bemerkt
habe, es war vielleicht 6 m tief und 20 m weit, bin ich auch schon
heruntergefallen. Zumindest für den eigentlichen Zweck war es gut geeignet. Der
Weg wieder nach oben war sehr beschwerlich, die Wände waren ziemlich steil.
Ich hätte
mir auch die Knochen brechen können. Das wäre es dann gewesen. Dort hätte mich
niemand gefunden. Niemand hätte mich in dieser Gegend vermutet/gesucht. Ich wäre
für immer verschollen.
Endlich war ich der Meinung, die Grenze hinter mir gelassen zu haben. Sicher war
ich mir aber immer noch nicht! Das Dümmste wäre jetzt, ungeduldig, sich zu früh
zu zeigen. Und was, wenn es noch jugoslawisches Gebiet war? Dann wäre alles
umsonst gewesen, alles verloren gewesen. Wegweiser war die riesige Lichtsäule am
Himmel - die Neujahrs-Lichter der Stadt Triest, weit unten. Höhenunterschied
Sezana-Triest: 400 m.
Ich bin bis auf etwa 150 m an die Strasse herangegangen. Gelegentlich fuhr ein
Auto Richtung Italien. Zerschunden, blutig, schmutzig, hungrig, halb erfroren,
hat es schon viel Überwindung gekostet, nicht auf die Strasse zu gehen. Zum
Glück lag gar kein Schnee da. Das Karst-Klima ist sehr mild, wegen der Nähe des
Meeres.
Nach weiteren 2 Stunden Fußmarsch, nachts im unwegsamen Gelände, bin ich dann
doch auf die Strasse. Sich ein Bein zu brechen, oder zu Tode zu stürzen...
Kam ein Fahrzeug, versteckte ich mich im Graben. Ob ich Angst hatte? Ich glaube
nicht. In dieser Situation ist für solche Gefühle kein Raum. Man spürt weder
Schmerz, noch Hunger, noch Kälte.
Nach weiteren ca. 2 Stunden Fußmarsch kam eine Tanksstelle, und wie ich sehen
konnte, war es eine italienische Tankstelle. Der Tankwart hat hinter seiner
Panzerglasscheibe geschlafen. Er wurde wach auf mein klopfen hin; er hat sofort
gewusst, was mit mir los gewesen ist. Auf meine Rufe hin: "Italia? Italia?"
Bestätigte er freundlich "Si, si. Italia !" und wünschte mir alles Gute im Neuen
Jahr. "Viva Italia!" Ich habe ein paar Minuten getanzt und vor Glück laut
gelacht.
Dieses unbeschreibliche Gefühl, es doch geschafft zu haben war alle diese
lebensgefährlichen Strapazen wert.

Sežana
(Sesana)-Trieste. Diese Strecke zufuß, in der Nacht.
(Vor 40 Jahren gab es diese Autobahnen noch nicht)

Karst, das Gelände. Höhenunterschied. 400 m.
Asylant

"Saluto Cordiali d`Italia . Triest
Das war die erste Postkarte, aus der Freiheit abgeschickt.
Die Stadt Triest unten im Tal, war zu sehen als eine riesige rote Lichtsäule
am Himmel. Der Weg abwärts, wieder ca. 6 Stunden Fußmarsch, war nur noch reine
Freude, obwohl meine Füße blutig gescheuert waren. Ich lief nur noch auf rohem
Fleisch.
Auf der Straße habe ich versucht eines der wenigen Fahrzeuge in Richtung Triest
zu stoppen. Endlich hat ein Wagen, ein kleiner Lieferwagen angehalten und mich
die letzten km, bis vor die Polizeidirektion mitgenommen. Ich war so erschöpft,
dass ich an die Fahrt keine Erinnerung habe. Ich muss eingeschlafen sein.
Gegen 9 Uhr Vormittags am 3.01.1965 stand ich vor der Polizeidirektion Triest.
Auch heftiges Klopfen hat nichts bewirkt, das Gebäude war fest verrammelt. Der
Autofahrer musste weiter, er bedeutete mir dort zu warten, irgendwann machen die
schon auf.
Ich saß wie ein Häufchen Unglück, erfroren, blutig, schmutzig und fürchterlich
hungrig und müde auf der Treppe. Da kam ein Italiener in Busfahreruniform auf
mich zu. Er sah sofort was los ist, und auf mein "Sono politico rifugiato
(politischer Flüchtling)", öffnete er seine Geldbörse. Es war ihm peinlich, denn
er hatte nur ein 500 Lire Geldstück dabei. Er zeigte auf ein Cafe an der Ecke,
und bedeutete mir, dass es bald öffnet und ich ein Kaffee dort trinken kann. Das
Geld (1,00 DM entsprach 900 Lire) reichte für eine Tasse. Der Kellner dort hat
mir noch eine zweite Tasse Kaffee ohne Bezahlung eingeschenkt. (Diese Münze,
sowie diese zweite Tasse Espresso, habe ich bis jetzt sicherlich schon ein
Tausend Mal zurückgegeben! Und ich zahle immer noch zurück.)
Da kam eine Frau auf mich zu, die auch Deutsch sprechen konnte. Wer sie
herbeigeholt hat weiß ich nicht, vielleicht der Busfahrer oder auch der
Autofahrer, der mich dorthin brachte. Sie war fürchterlich aufgeregt und hat mit
mir gegen die Eingangstür heftig geklopft. Niemand hat aufgemacht. Sie ist
schimpfend weg – es dauerte nicht lange, da kam ein Jeep mit vier Carabinieri,
die mich dann mit Handschellen mitgenommen haben. Eigentlich wurde ich
verhaftet, und zunächst in Carantena (in eine Gefängniszelle) für vier Wochen
gesteckt. Ich hatte ja keinerlei Papiere bei mir.
Wie mir später der Umberto berichtet hat – der Umberto gab mir noch in Sezana
seine Triester Telefonnummer, diese hab ich auf meine Arme und Beine als
einzelne Zahlen geschrieben (sollte ich gefangen werden, durften die
jugoslawischen Behörden keinen Hinweis auf ihn erhalten) gehörte diese Frau dem
Stadtrat an. Sie hat ein riesiges "Fass aufgemacht", denn das ganze
Polizeipräsidium war noch besoffen und Polizeiarbeit hat einfach nicht
stattgefunden. Diese Geschichte ging dann durch die italienische Presse, als
Polizeiskandal. Umberto war nach meinem Anruf sehr erleichtert. Er wusste ja
nicht, ob ich den Sprung aus dem Fahrendem Auto (zwischen 30 und 50 km/h
schnell) heil überstanden habe. Was, wenn ich mit gebrochenen Knochen im Graben
liege und er fährt einfach weiter? Anzuhalten und nachsehen, hat er sich nicht
getraut, durfte er nicht. Um so größer war seine Freude, nach meinem Anruf.
Den Umberto habe ich nach diesem Telefongespräch, leider nicht mehr gesehen.
Nach täglichen Verhören und vier Wochen Carantena, ich hatte ja keine Dokumente
bei mir(!), wurde ich in das Asylantenlager gebracht und durfte einen Antrag auf
Asyl stellen. Das Lagergelände zu verlassen war uns verboten. Aber die enge
Gefängniszelle war Vergangenheit. Die Beamten fragten immer wieder, wer mir die
italienischen Sätze beigebracht hat, und was ich in Italien tun sollte!
Das Lager war ein sehr großes leeres 4 stockiges Fabrikgebäude mit großem
Innenhof. In die leeren Fabrikhallen waren Holzverschläge mit metallenen
Etagenbetten eingebaut. Wir waren etwa 5.000 Asylanten dort. Die Fenster ohne
Scheiben, es gab keine Heizung. Die Toiletten, es waren französische Toiletten,
ein Loch im Boden, waren entsprechend (gegen 3:00 Uhr nachts, konnte die
Toilette ungestört benutzt werden), es war kein ausreichender Sichtschutz
vorhanden.
Es haben sich nationale Gruppen gebildet, wir Deutschen waren die größte Gruppe,
dann kamen die Ungarn (mit einer Familie habe ich mich angefreundet), Rumänen
und andere. Die Ungarische Familie hatte schon die Ausreise nach Australien
perfekt und ist kurz darauf abgereist. Mein ungarischer Freund, seine Schwester
hat sich in mich verliebt, schenkte mir sein 5,00 DM Stück. Mein erstes
"Westgeld". In einer Bank bekam ich dafür einen ganzen Haufen Lire (für richtige
Zigaretten) ausgezahlt.
Die Jugoslawen zählten nicht, es waren fast alles Nutten und Diebe, die auch
immer wieder zurückgeschickt wurden.
Meine größte Überraschung war der Polnische Miliz Mikolai aus dem Zug, aus
unserer Reisegruppe, vor dem wir so viel Angst gehabt haben. Er hatte eine gut
organisierte Fluchtmöglichkeit über die Adria nach Triest per Schiff. Er wollte
mich mitnehmen, na ja, was soll's. Er sagte mir, dass er fast verzweifelt
wäre, weil ich nicht verstehen wollte, was er meinte, obwohl er immer
deutlicher wurde; er hatte Angst alleine in den unbekannten fremden Westen zu
gehen. Mit mir gezählt, ist es drei Personen gelungen zu fliehen.
Ich war seine Rettung. Er ging dann nach Hamburg zu seiner Deutschen Freundin
(einer Spätaussiedlerin, aus Liebe ist er ihr gefolgt). Wir haben später
Postkarten ausgetauscht. Ich war im Lager sein Dolmetscher. Auch für die anderen
reichte mein Englisch. Ich wurde eine Art Lagersprecher und Held. Ich war
der einzige, der zu fuß über die "Grüne Grenze" geflohen war. Die anderen waren
Touristen, oder hatten gefälschte Papiere (wie der Mikolai),
Eine berühmte Schauspielerin war auch dabei. Als Privilegierte wurde sie
"krankgeschrieben" und durfte im Lagerlazarett auf ihre Asylverhandlung warten.
Ich habe sie gerne besucht, denn das Essen war dort ungleich besser und sie hat
für mich immer etwas beiseite gelegt. Ab und zu gab sie mir auch eine von ihren
Zigaretten. Leider ist sie bald in die USA abgereist.
Einer aus unserer Gruppe bekam einen Magengeschwürdurchbruch. Ich musste mit in
das Trierer Krankenhaus in die "Seconda Chirurgica", wo er notoperiert wurde, um
zu dolmetschen.
Wichtig und eine Genugtuung für mich war, meine Feinde über die erfolgreiche
Flucht zu informieren. Die Postkarte mit "Herzliche Grüße aus Italien" an eine
Freundin, die Sofia, Tochter des Parteisekretärs adressiert, hat "wie eine Bombe
eingeschlagen". Wie mir mein Freund und Nachbar, Bolek H., der im selben Haus
gewohnt hat, 33 Jahre später berichtet hat, hat man meine Schwester im Haus
"geschnitten" - sie wurde nicht gegrüßt. In der Arbeit bekam sie Probleme, wurde
schikaniert und schließlich fristlos entlassen. Sie hat damals im Rechenbüro der
Grube gearbeitet, als Ober-Buchhalterin. Nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit,
ohne Arbeitslosengeld, wurde sie als einfache Arbeiterin, zu einer der
schlimmsten Tätigkeiten für Frauen in der Grube, in der Kohle-Sortier-Anlage
angestellt. Es war wohl die Zweitschlimmste Zeit, nach der Besetzung des Landes
durch die Sowjets, bzw. die Polen, in ihrem Leben. Bolek schämt sich heute, für
dieses Verhalten der Leute von damals.
Das aller erste aber war, diesen eleganten Hut wegzuwerfen! Es war meine erste,
und bis heute einzige Kopfbedeckung.
Wir Asylanten bekamen zwei Mahlzeiten täglich. Morgens eine Schüssel mit Kaffee
und ein Stück Weißbrot dazu. Nachmittags grünen (roten) Salat und Pasta. Dieser
Salat hat mir nicht geschmeckt, war aber wohl gesund. An Kleidern hatte ich nur
das, was ich am Körper hatte. Und das seit meiner Abreise am 20.12.1964. Im
Waschraum konnten wir auch von Hand Wäsche waschen (kaltes Wasser!). Wir hatten
keine Wäsche zum Wechseln, ich natürlich auch nicht – das heißt, bis die
Unterhose trocknete, musste man ohne herumlaufen oder auf das Waschen
verzichten. Für uns, junge Männer war das kein großes Problem. Die Frauen hatten
ihre Probleme.
Ich war zu dieser Zeit ein starker Raucher. Deshalb war es auch die schlimmste
Zeit für mich. Wir haben Kippen gesammelt, den Resttabak herausgekrümelt und mit
Zeitungspapier geraucht. Als Nichtraucher, wäre dieser Zeit vielleicht noch
etwas romantisches abzugewinnen gewesen. Ich hätte lieber italienisch lernen
sollen, aber ungarisch, wegen der neuen Freundin, war wichtiger. Serbokroatisch
und ungarisch habe ich gelernt. Zuerst fluchen.
Spaß haben die Spaziergänge in der Stadt mit Mikolai gemacht. Nachdem mein
Asylantrag gestellt war, durfte ich auch dieses Lager für Spaziergänge
verlassen, aber nicht die Stadt. Der Bürger-Miliz (Milicja Obywatelska (MO)) Mikolai
war zwar schon 45 Jahre alt, aber aus einem hinterpolnischen Dorf (kein
Schlesier). Ich musste ihm erklären was eine Banane ist ("co to jest, banan?"
"Was ist das, eine Banane"?) und so weiter. Er war wie ein Kind, dem man alles
erklären muss (darf). An den Geschäftsauslagen haben wir große Augen gemacht.
Diese Pracht, alles glitzerte so.
Außer diesen zwei Mahlzeiten täglich bekamen wir gar nichts, rein gar nichts.
Kein Taschengeld, keine Kleidung, keine Seife. Einmal pro Woche durften wir
einen Brief schreiben. Er wurde dann von der Lagerverwaltung frankiert. Nach
Hause habe ich sicherheitshalber nicht geschrieben.
Es bestand die Möglichkeit, im Hafen Eisenbahnwaggons mit (polnischem!)
Pferdemist zu entladen. Wir konnten unsere Kleider ja nicht waschen, der Gestank
war kaum auszuhalten, das habe ich dann nicht getan.
Die Flucht
ging weiter
Nach zwei Monaten kam meine
Gerichtsverhandlung, bei der über meinen Asylantrag entschieden werden sollte.
Als Wunschland habe ich West-Deutschland angegeben. Die Vorgespräche mit dem
Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Triest waren wenig erfreulich.
Für ihn war Schlesien polnisch und nichts als polnisch, folglich die Bewohner
Polen, folglich ich ein Pole.
Der Richter hatte von ihm eine entsprechende Empfehlung, dass heißt, mir wurde
die Zuteilung "Asyl in Deutschland" verweigert. Ich sollte entweder in die USA,
oder nach Australien. (Die Italiener bekamen Prämien von diesen Ländern, wenn
gesunde, gebildete Asylanten dorthin geschickt wurden.) Ich habe Australien
gewählt (wegen der Ungarn (der Ungarin)) ich hatte ja eine Kontaktadresse von
ihnen bekommen).
Nach meinem Brief an meinen Vetter Werner in Mainz, hat dieser die Botschaft in
Rom sowie das Generalkonsulat in Mailand informiert. Werner hat auch die Familie
in Deutschland mobilisiert. Mein Vetter Carl, ein Musiker aus Frankfurt/M.
schickte mir daraufhin 100,00 DM zu. Die Flucht musste fortgesetzt werden.
Ende Februar flüchtete ich aus Triest nach Mailand, ich besaß immer noch
keinerlei Dokumente. Triest zu verlassen war uns Asylanten nicht gestattet. Der
Generalkonsul (genauer: der Vizekonsul Friedrich Garbers) in Mailand bekam
heftige Bauchschmerzen, gab mir dann aber doch ein Darlehen von 16.000 Lire
(=102,10 DM) am 23.02.1965, für eine Fahrkarte nach Nürnberg sowie einen
Ersatzpass. Es war eine illegale Handlung gegen die Asylbestimmungen in Italien.
Es hat einige Überredungskünste erfordert. Eine Frau im Konsulat, an deren Namen
ich mich leider nicht erinnern kann, hat mir dabei geholfen. Vielen Dank, dieser
Frau. Die Briefe von meinen Vettern Werner und Carl, haben ebenfalls etwas
geholfen.

In Nürnberg hat schon der Verfassungsschutz auf mich gewartet. Ich wurde mit
einem PKW am Bahnhof abgeholt. Die Männer, die mich abgeholt haben, fragten
mich, welches Auto ich mir denn kaufen werde. Ich war aber überfragt, an ein
Auto habe ich nun gar nicht gedacht. Die dachten wohl: wieder ein
Wirtschaftsflüchtling.
Sie gaben mir neue (gebrauchte) Kleider, ein Hotelzimmer mit Bad! und eine
Nummer. Man wurde nur über diese Nummer angesprochen, Namen durften nicht
genannt werden. Nach drei Monaten die erste Möglichkeit sich richtig zu waschen,
bzw. zu duschen und ein richtiges Bett. Nach drei Tagen Befragung durch den
Geheimdienst, bekam ich die Zuweisung nach Osthofen (Rheinland-Pfalz). Dort wurde ich registriert
und durfte nach Mainz zu meinem Vetter Werner Sowa reisen. Am übernächsten Tag
hatte ich meine Anstellung bei (damals) "Jenaer Glaswerk Schott&Gen." als
Schmelzgehilfe. Ein Bett hatte ich im Arbeiter-Wohnheim in Gonsenheim, Heidesheimer Str. 17, im Doppelzimmer, mit einem Fremdarbeiter aus Spanien.
– und das war's!
Ein Jahr später besuchte ich diesen Italiener, der sich Honorarkonsul der
Bundesrepublik Deutschland nannte, in Triest. Meinen Bundesdeutschen Pass hat er
ungläubig in den Händen betrachtet. Es ging nicht in seinen Schädel, dass ein
Schlesier Deutscher ist. Es war mir aber die Reise wert. Ich war in Triest noch
als "untergetaucht", als "vermisst" geführt. Es war mir auch wichtig, für
weitere Flüchtlinge aus Schlesien, in Triest ein besseres Klima zu schaffen.
Nachsatz
Der Versuch, diesen Fluchtweg 1 1/2 Jahre später mit
einem Pärchen, Urlauber aus Schlesien in Jugoslawien noch mal zur Flucht
zu nutzen, ist schief gegangen. Wir wurden von Hunden aufgespürt und von
den Grenzern festgesetzt. Ich wurde zu 2 Wochen Arrest und zu 50.000 Dinar
Strafe verurteilt. In meinen Bundesdeutschen Pass kam der Vermerk:
"Einreiseverbot", und "Das Land muss innerhalb 24 Stunden verlassen
werden". Eine Ausweisungsverfügung.
Um das Geld für die Strafe zu beschaffen, habe ich meine Manschettenknöpfe
auf der Strasse verkauft. Mein ganzes Bargeld ging auf die Strafe drauf.
Ich stand nun vor dem Problem, ohne Geld von Jugoslawien / Italien, über
die Schweiz nach Mainz zu gelangen.
Die Freunde wurden zurück nach Polen geschickt. Es war die falsche
Jahreszeit, oder wir wurden beobachtet und "verpfiffen", ich weiß es
nicht. Ich denke, sie waren schon zu Hause unvorsichtig. Es schien so, als ob die Grenzer auf uns warteten.
Die Reise per Anhalter, ohne Geld, von Sezana/Triest über Padua, Mailand,
die Schweiz, nach Mainz, war eine weitere Grenzerfahrung für mich.

Heute:
Sezana - Triest
(Besonderen Dank
schulde ich meiner Schwester, die beim Zusammentragen der Reisekosten
geholfen hat, und mir auch sonst den Rücken frei gehalten hat. Sie hatte
auch die Folgen meiner Flucht zu erdulden, in Form von Schikanen der
Behörden. Sie hatte ihren Arbeitsplatz verloren, musste in einer
anderen Firma Hilfsarbeiten verrichten Weiter meinem Vetter Dieter, die Armbanduhr, für sein Zahngold
erworben, hat mir auch geholfen. Der Ehefrau des einen Bruders, die mir
ihren Ring gegeben hat. Dann meinem Vetter Werner† in Mainz sowie meinem
Vetter Carl † in Frankfurt.)
In
West-Deutschland
Es war ein weiter, steiniger Weg, bis
zum (bescheidenem) Erfolg. Ein Jahr später (8.03.1966 bis 8.10.1966),
wurde ich Zivilangestellter der Besatzungsmacht US-Army in Frankfurt/M

.......das Chemie-Diplom an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz
erworben. Zuerst musste aber in Göttingen am Gymnasium eine Sonder-Prüfung
abgelegt werden, um die Deutsche Hochschulreife zu erlangen. Das polnische
Abiturzeugnis wurde damals im Westen nicht anerkannt. Es wurden hier Kenntnisse
zweier Fremdsprachen verlangt. In Polen hatte ich aber nur eine Fremdsprache,
Russisch. Um Polnisch und Russisch als zwei Fremdsprachen anerkannt zu bekommen,
musste das Ministerium eine Sondererlaubnis geben. Im Mainzer Institut für
Slawistik, bei einer Professorin, habe ich die Prüfungen für Russisch und
Polnisch abgelegt und die Annerkennung erreicht.
Wir haben in Göttingen ein Jahr lang die Schulbank gedrückt. Es war ein netter,
lustiger Haufen, aus allen Ländern Ost-Europas.
So habe ich zwei Mal die Abitur-Prüfung ablegen müssen. 1964 in Polen
(Schlesien), 1967 in Göttingen.
In Göttingen trafen sich Abiturienten aus verschiedenen Ländern.
Ich habe dort meine spätere Ehefrau kennen gelernt. Sie kam aus Stuttgart
(Spätaussiedlerin aus dem Banat, Jugoslawien), das war für mich der Grund, mich
in Tübingen um einen Studienplatz zu bemühen. Ich fuhr nach Tübingen, nach Abzug
der Fahrtkosten, blieben mir 20,00 DM übrig. Das war mein Kapital, der
Grundstock für das Studium der Biochemie in Tübingen.
In Tübingen angekommen, habe ich auf dem Bahnhof geschlafen. Der Bahnhof wurde
ab 1:00 bis 4:00 geschlossen. Man musste sich verstecken, sonst wurde man
weggeschickt. Ich lag auf der Bank, hinter dem Tisch versteckt. Der Kontrolleur,
der die Hallen abschritt auf der Suche nach "Pennern", hat mich zwar gesehen,
aber immer übersehen: vielen Dank, nachträglich!. Ich bin ihm sehr dankbar
dafür. Bald war ich auch ein "Penner". Die Solidarität unter den Pennern war
sehr groß. Man bekam Tipps, wo und wie man Schnorren kann, bei welchem Pfarrer
es sich lohnte, anzuklopfen, bei welchen wieder nicht. Sozialhilfe gab es damals
noch nicht (und natürlich auch kein Hartz-IV Gehalt). Wer kein Geld hatte,
musste arbeiten, oder hungern. Bald hatte ich eine Arbeit bei der Post, in der
Paket-Sortiererei gefunden.
Meine Freundin aus Göttingen, meine spätere Ehefrau hat mich mit Lebensmitteln
über Wasser gehalten. (Meine Postkarten, mit dem Absender "Unter der
Neckarbrücke", hatten entsprechende Wirkung auf diese mitleidigen Menschen, auf
ihre Familie gehabt.)
Mein Antrag auf Stipendium wurde abgelehnt. Zufällig traf ich auf dem Amt im
Treppenhaus einen Amtsleiter/Politiker(?), der, nach dem er sich meine
Geschichte angehört hatte, zu einer anderen Erkenntnis gekommen ist. Er ist mit
mir in das Sekretariat zurück gegangen und auf sein Betreiben hin, wurde mein
Antrag doch noch genehmigt.
Ab da ging's bergauf!
Bronislaw Ilski, ich hatte keinen besseren Freund, habe ich
nicht mehr gesehen, bzw. gesprochen. 2009 habe ich erfahren, dass er 1992 sich
getraut hat, vorsichtig, bei meinem Cousin Manfred nachzufragen. Manfred Hatte
Angst zu antworten - dieses Schreiben hätte auch dem kommunistischem
Sicherheitsdienst UB bekannt gewesen sein. Er hat diesen Brief versteckt und
erst jetzt wieder gefunden. Wie ich erfahren habe, ist Bronek, der beste Freund,
den ich je hatte, mittlerweile verstorben.
Das gehört aber nicht hierher!
Heute (im Jahre 2010), fühle ich mich wieder als Autochthon,
als verfolgter, diskriminierter Deutscher. Womöglich ist das Klima für einen
Autochthon in meiner Heimat Schlesien nun besser, als in der BRD. Paradox, was?
Muss die Flucht fortgesetzt werden?
Meine Zivilcourage, meine "politische Unkorrektheit" habe ich
immer noch .....
Wir waren "Flüchtlinge". Wir durften das Land nicht verlassen.
Was heute mehrheitlich als Flüchtling bezeichnet wird, stellt einen Eindringling
dar. Dieser darf ausreisen - die Einreise wird ihm verwehrt.
Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Mit Stolz, nenne ich
mich einen Oberschlesier.
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